Lyrik, Lieder, Leselust – lassen sich Gedichte übersetzen? Robert Frost soll ja gesagt haben, „Dichtung ist das, was in der Übersetzung verlorengeht“. So ganz genau stimmt das nicht; er hat aber geschrieben: „Poesie ist das, was sowohl Prosa als auch Gedichte in der Übersetzung verlieren.“ Was ja auch nicht falsch ist: Jagt man einen Text durch eine Übersetzungssoftware, ist die Poesie tatsächlich verloren. Und wenn man nur den Inhalt übersetzt – ohne auf den Klang, den Rhythmus und die Bilder zu achten – ebenfalls. Aber es geht ja auch anders. Lyrikübersetzung: von der Poesie bis zum Jingle Meine höchste Leidenschaft gilt dem, was man als seriöse Lyrik bezeichnet (auch lyrische Essays und poetische Dramen gehören dazu), doch auch leichtherzige Verse übersetze ich gerne. Zeilen, die für eine Firmenfeier oder Hochzeit geschrieben wurden, in eine andere Sprache zu übertragen – das ist eine andere Art Freude, als große Kunstwerke nachzudichten. Aber eben auch eine Freude. Und am schönsten ist es, wenn so ein Text in der Nachdichtung noch schöner wird: griffiger, lustiger, romantischer… Ein wiederum anderes Vergnügen ist es, Songs zu übersetzen. Bei einem Lied muss in der Übersetzung nicht nur ganz besonders der Rhythmus stimmen – das Ganze muss auch singbar sein. Bestimmte Vokale eignen sich besser als andere, die Betonung der Melodie muss zu der Betonung jedes Wortes passen … Will man einen deutschen Songtext ins Englische übersetzen, hat man es tendenziell leichter: Englische Wörter sind kürzer, und so kann man die Akzente besser verteilen. Das hilft besonders bei der Übersetzung von Rap und Hip-Hop Lyrics: Es ist einfacher, deutschen Rap ins Englische zu übersetzen als umgekehrt. Dann gibt es noch Lyrik, die für Poetry-Slams geschrieben wurde; sie hat wiederum ihren eigenen Charakter: Der Übersetzer muss sich vorstellen, wie vorgelesen wird, wo im Gedicht die Pausen liegen, wo die Stimme lauter wird. Wo in einem deutschen Slam-Text ein Wort zischt, sollte auch in der englischen Übersetzung etwas zischen; vielleicht lohnt es sich, dafür einige Zeilen umzustellen. Solche Entscheidungen treffe ich als Übersetzerin am liebsten im Dialog mit dem Autor / der Autorin. Und wenn die Übersetzung als Untertitel oder Obertitel eingeblendet werden soll, ist die Kürze besonders wichtig. Lyrik in Zeiten des Corona-Virus Vielleicht eignen sich unsere surrealen Zeiten ja ganz besonders für Lyrik. Zufälligerweise hat Josif Brodskij, über dessen Lyrik ich promovierte, vor genau 50 Jahren ein Gedicht über Isolation geschrieben, das sich unter anderem auf die Hongkong-Grippe von 1968–1970 bezieht. Hier sind die letzten vier Zeilen dieses Gedichts in meiner englischen und deutschen Fassung: Don’t be a fool! Instead, be what others couldn’t be. Don’t leave the room! Let furniture keep you company, merge with the wall, barricade your irises from the chronos, the eros, the cosmos, viruses. Und jetzt Deutsch: Sei doch kein Trottel! Sei einzigartig, wohl oder übel. Verlasse dein Zimmer nicht! Verlasse dich auf die Möbel, wachse in die Tapete, ins Zimmer. Barrikadier es mit dem Schrank vor dem Chronos, dem Kosmos, dem Eros, dem Virus. (Die Rechte gehören der Brodsky Foundation.) Soll sich eine Übersetzung reimen? Man sieht hier: Ich neige dazu, die Reime und das Metrum wiederzugeben. Ich muss als Übersetzerin mit den Kunden aber ehrlich sein: Diese Vorliebe ist unüblich. Die meisten „seriösen“ Gedichte und Übersetzungen reimen sich heutzutage nicht; ich kann durchaus nach Wunsch vorgehen und in Blankvers oder in rhythmisierter lyrischer Prosa übersetzen. (So wird die Lyrikübersetzung auch günstiger und schneller fertig.) Für ein Firmenjubiläum oder eine große Familienfeier eignet sich eine reimende Übersetzung vielleicht doch am besten. Falls man sich, sagen wir, an ein amerikanisches Lyrik-Magazin wenden möchte, ist eventuell eine Übersetzung ohne Reime vorzuziehen. Das bespreche ich stets mit dem Autor oder Autorin vor dem Beginn der Übersetzungsarbeit. |