Warum einen Klassiker neu übersetzen?
Diese Frage stelle ich mir in einem Essay zur Literaturübersetzung. Es hat sehr viel Spaß gemacht, diesen Text zu schreiben; ich teile hier mal einen Ausschnitt:
„Die ehrliche Antwort aus der Verlagsperspektive lautet: Die Rechte sind frei, es lässt sich also Geld verdienen.
Die ehrliche Antwort aus meiner Perspektive hatte ich schon genannt: Es macht Riesenspaß und ist eine großartige wie unverdiente Chance.
Aber damit mein Gewissen mich nicht plagt – und vielleicht geht es dem Verlag ja auch so – muss die Übersetzung auch in Bezug darauf etwas hergeben:
Eine Antwort aus der Perspektive der Lesenden: Jede Übersetzung sollte etwas liefern, was die andere(n) Übersetzung(en) nicht haben.
Ich spreche hier bewusst nicht von alten und neuen Übersetzungen, und erst recht nicht von „schlechteren“ und „besseren“. Ich finde auch nicht, dass jede Generation eine neue Übersetzung braucht – vielmehr, dass es schön ist, wenn es für ein richtig gutes Buch mehrere Übersetzungen gibt. Dass Übersetzungen schneller altern als Originale mag zwar zu einem gewissen Grad stimmen, liegt aber eher in der Empfindung der Leserschaft als in der Natur des Übersetzens. Eine tote Autorin kann man ja schlecht ausgraben und um ein Update bitten – selbst lebendige Autoren aktualisieren äußerst selten schon veröffentlichte Romane – also hat man keine Wahl, als das Unmoderne an einem älteren Text hinzunehmen (oder gar wertzuschätzen). In Übersetzungen aber lebt der Text weiter und kann sich wandeln, und so wird ihm oft ebendieses Wandeln abverlangt.“
Wenn sich also jemand fragt „Welche Übersetzung von Der Meister und Margarita ist die beste?“, würde ich sagen, es ist die falsche Frage.
„Wenn ich mich nun für meine Lösungen nicht schäme, heißt das nicht, dass ich sie objektiv besser finde. Sie entsprechen nur eben meinen Prioritäten; meinen Schwerpunkten. Und jetzt stellt euch mal eine Welt vor, in der Übersetzungen nicht nur bemerkt, sondern auch detaillierter verglichen werden als „harascho da, njet harascho njet“. In der die drei Meister-Fassungen nebeneinander stehen, und eine Buchhändlerin ihre Brille zurechtrückt und einem Kunden erklärt: „Also, Reschke ist der Klassiker, da können Sie nichts falsch machen; wenn Sie’s etwas experimenteller und modernistischer mögen, greifen Sie zu Nitzberg – und wenn Sie auf Politisches und Klamauk stehen, nehmen Sie die Berlina.“

